„Eine Zugfahrt, die ist lustig…“ dachte ich mir im letzten Jahr und bestieg Anfang Juli einen der legendärsten Züge der Welt – die Transsibirische Eisenbahn. Doch ging es mir nicht nur um das Erlebnis des Zugfahrens, nein, ich wollte auch das echte Leben vor Ort kennenlernen. Daher waren auf meiner Reise mehrere Stopps bei Gastfamilien eingeplant.
Zischend und ruckelnd kommt der Zug zum Stehen. Ich befinde mich auf Tag 12 meines Abenteuers mit der Transsibirischen Eisenbahn. Mit meinem Backpack auf dem Rücken, meinem kleinem Rucksack vor mir und der Essenstasche in der Hand quetsche ich mich durch den schmalen Zuggang Richtung Ausgang. Ich bin in Taischet angekommen. Um mich herum stürzen sich Familien glücklich in die Arme, andere sitzen in freudiger Erwartung ihrer Liebsten auf dem Boden, Kinder wuseln durch die Gegend, ein buntes Durcheinander. Suchend blicke ich mich um. Langsam lehrt sich der Bahnsteig, der Zug fährt hier inmitten der sibirischen Taiga nicht so häufig. Plötzlich werde ich angetippt. “Christina?” klingt es fragend. Wie so oft heiße ich hier in Russland Christina, Kerstin ist für die Russen nicht aussprechbar. Vor mir steht eine sympathische, mittelgroße Frau mit braunen Haaren. Meine Gastgeberin Lina, wie es sich herausstellt. In gebrochenem Englisch macht sie mir verständlich, dass wir jetzt zu ihrer Datscha fahren, welche sich in einem Dörfchen namens Birjusa befindet. Eine Datscha ist ein Wochend- bzw. Sommerhaus, wie es viele Russen haben, auf dem Lande. Wir lassen Taischet hinter uns und fahren durch grüne Wälder, bis wir schließlich Birjusa erreichen.
Schon auf den ersten Blick hat es mir dieses klitzekleine Dörfchen angetan. Die für Sibirien so typischen weiß (soll Insekten fernhalten), blau (symbolisch für den Himmel) und grün (symbolisch für die Erde) gehaltenen Holzhäuser reihen sich entlang der Straße, eingerahmt durch Gärten, in denen Gemüse und Obst um die Wette wachsen. Die hölzernen Zäune rundum der Gärten dienen zum Schutz der mühevoll gezogenen Pflänzchen vor Kühen, Ziegen und Co., die hier wild durch die Straßen streunen. Birjusa liegt auf einer Art Insel, umgeben vom gleichnamigen Fluss und ist inzwischen lediglich über eine Brücke aus erreichbar. Früher waren dies zwei aber darüber später mehr.
Inhalt
Zu Gast in einem sibirischen Dörfchen
Wir biegen in einen Feldweg ein und parken wenig später vor einem schnuckeligen blau-grünen Holzhaus. Wie in Russland üblich hinterlasse ich meine Schlappen auf der Veranda, wo sie sich in bester Gesellschaft von zwei anderen Schuhpaaren verschiedener Größen wiederfinden. Auf die Besitzer dieser Schuhpaare treffe ich in der Küche: Grigori, der Vater des Hauses begrüßt mich herzlich mit blitzendem Goldzahn und sympathischem Russisch-Deutsch während die jüngste Tochter des Hauses, Malinka, mir um die Füße wuselt. Mein Zimmer ist ein durch einen Vorhang von der Küche getrennter Raum mit einem Federbett, in dem man wie in einer Hängematte liegt.
Ohne großartiges Auspacken begebe ich mich auf Erkundungstour. Zuerst sind Haus und Garten an der Reihe. In Erwartung des nächsten, strengen Winters ist das Holz bereits sorgfältig gegen die Hauswand aufgeschichtet. In respektvollem Abstand zum Häuschen befindet sich das Plumpsklo, welches auch im Winter bei -30 bis -50 Grad benutzt wird – brrrrrr… Dieses ist ist umgeben von einem gepflegten Garten in dem Himbeeren, Kartoffeln, Möhren und Co. wachsen. Wie mir Grigori später berichtet ist dieser sein ganzer Stolz. Die “natural Produkt” (wie er es nennt), die in seinem Garten gedeihen sind komplett biologisch und schmecken viel besser als alles, was man im Laden kaufen kann. Seine Tochter, die weiter weg in einer anderen Stadt lebt, habe regelmäßig Heimweg nach dem leckeren Obst und Gemüse aus Birjusa.
Während mir die Sonne trotz der späten Nachmittagsstunde heiß auf die Schultern brutzelt erkunde ich das Dörfchen. Auch auf den zweiten Blick gefällt mir, was ich sehe. Ich fühle mich in eine Welt versetzt, in der die Uhren noch um einiges langsamer ticken. Schließlich finde ich mich am Fluss wieder. Ein paar Städter nehmen laut johlend ein Bad, ihr Auto direkt an der Wasserkante parkend. Zum Unmut der Dorfbewohner, die den “Überfall“ der Städter auf ihr Dorf am Wochenende und abends mit sehr gemischten Gefühlen sehen. Nicht nur des Lärms, aber auch des Mülls wegen, den die Besucher gerne hinterlassen. Ich schlendere weiter am Fluss entlang, bis ich an einer kleinen Bucht lande in der komplette Ruhe herrscht.
Bei Rückkehr zum Haus erwartet mich eine Tasse Tee (die in Russland immer siedend heiß und schlürfend getrunken wird) und ein süßes Gebäckstück mit Marmelade. Bis zum Abendessen nutze ich die Zeit zum Auspacken und Nachlackieren meiner bereits mitgenommen Zehenbemalung. Vertieft in die Malerei merke ich gar nicht wie Malinka durch den Vorhang in mein Zimmer gekommen ist. Sie beobachtet mich und als sie sieht was ich tue steckt sie mir ihre Hand hin, etwas auf Russisch murmelnd. Sie bedeutet mir, dass auch sie Nagellack möchte. Ich bemale zwei ihrer winzig kleinen Fingernägel in leuchtendem Rot. Stolz wie Oskar verschwindet sie wieder durch den Vorhang. Lina, ihre Mutter lacht in der Küche. Malinka hat ihr ihre Finger mit den Worten (übersetzt) “Schau Mama, ich geh jetzt in den Kindergarten” präsentiert. Wie süß!
Zu Besuch in Sibirien: Eine russische Geburtstagsfeier
Je näher der Uhrzeiger Richtung sieben Uhr wandert, desto mehr Menschen versammeln sich in Haus und Küche. Wie ich erfahre feiert Grigori heute seinen 51. Geburtstag. Zu siebt lassen wir uns am reich gedeckten Tisch nieder. Ich bewundere, was Lina und ihre andere Tochter alles gezaubert haben. Vor uns stehen Kartoffelbrei mit Wurst, Ananassalat, frische Tomaten und Kirschen, mehrere andere Salate,… und Wodka. Natürlich, was wäre eine russische Feier ohne Wodka. “Christina, kleine kleine Wodka?” ertönt es sogleich aus Grigori Richtung über den Tisch hinweg. Ich bin gemeint. Mmh.. okay, aber nur einen ganz kleinen bedeute ich ihm. Natürlich ist es kein kleiner Wodka. Wir trinken auf Grigori, dann wird gegessen.
Zumindest die erste Runde. Dann heißt es wieder “Christina, kleine kleine Wodka?” schon ein Stückchen weniger fragend. Diese Frage werde ich an diesem Abend noch viele Male hören. Schon etwas angetüdelt wird mir verkündet, wir fahren jetzt zum Baden an den Fluss. Badesachen zusammensuchen, ins Auto steigen und die paar Meter zum Fluss fahren heißt es also. Die Abendsonne glitzert auf dem Fluss, das Wasser ist herrlich erfrischend. Wie es scheint, kommt das halbe Dorf hier abends zusammen.
Wieder zurück im Haus geht die lustige Essen- und Wodkapartie in die nächste Runde. Ich werde allen Neuankömlingen mit “Christina, good friend” vorgestellt. Einige “kleine kleine Wodki” weiter sagt mir Lina, dass die Banja auf mich wartet. Sehr gut, eine Trinkpause kommt mir gerade sehr gelegen.
Banja: Sauna – Russian style
Eine Banja ist ein russisches Badehaus bestehend aus einer Holzsauna und einem Erholungsraum. Typisch für die russische Sauna sind die vergleichsweise hohen Temperaturen von über 100 Grad Celsius und das Quästen. Ich staune nicht schlecht, als Lina heißes Wasser aus dem Wassertank in eine Schüssel gießt und darin Birkenzweige einweicht. Sie sagt mir, ich müsste nach jedem Saunagang meinen Körper mit den heißen, eingeweichten Zweigen abklatschen. Zweifelnd schaue ich die Schüssel an. Nach dem zweiten Saunagang traue ich mich an die Zweige heran. Gut riechen tun sie ja schon einmal. Auch wenn ich die Idee, mich selbst auszupeitschen merkwürdig finde klatsche ich mir das Zweigbündel gegen den Rücken, Arme und Beine. Was tut man nicht alles für eine gute Durchblutung?
Frisch gewaschen und nach Birke duftend schließe ich mich wieder der gemütlichen Runde am Tisch an. Es geht sehr gesellig zu, wir Essen, trinken Wodka und palavern im schönsten Russisch-Englisch-Deutsch-Mix sowie mit Händen und Füßen. Wir trinken auf Russland, “natural Produkt”, Grigori, die deutsch-russische Freundschaft und noch einiges mehr. Als sich die Gesellschaft schließlich um ca. 1 Uhr auflöst torkele ich in mein Hängematten-Bett. Alles dreht sich.
Auf Dorferkundung mit einer Einheimischen
Leicht verkatert werde ich am nächsten Morgen vom Geschirrklappern und Brutzelgeräuschen aufgeweckt. Kurze Zeit später steht das Frühstück auf dem Tisch: Oladi (fluffige Mini-Pfannkuchen) mit selbstgemachter Himbeermarmelade. Sooo lecker!
Wenig später werde ich abgeholt von Tatjana, einer ehemaligen Englischlehrerin. Sie führt mich durchs Dorf und erzählt mir mehr über den Alltag und die Geschichte des Dorfes. So besaß dieses einst einmal zwei Zugangsbrücke bis die Regierung von heute auf morgen beschloss, dass eine der beiden Brücken überflüssig sei und diese abbrechen ließ. Dies hat zur Folge, dass die Einheimischen seither nicht mehr zu ihrem Friedhof kommen, der auf der anderen Seite der abgebrochenen Brücke liegt. Ein Mal im Jahr wird eine Fahrt zum Friedhof organisiert.
Seit der Perestroika (Umgestaltung) ab 1986 verschwanden die Arbeitsplätze in der Umgebung. Heutzutage gibt es in Birjusa lediglich noch einen Kindergarten, eine Schule und ein Kinderhaus (für die Kinder von Alkoholikern/ verstorbenen Eltern), in welchen einige Dorfbewohner Arbeit finden. Viele Männer sind arbeitslos und versumpfen im Alkohol. Tatjanas Mann zum Beispiel starb mit 44. Sie meint jedoch, dass sie ohne ihn besser dran ist.
Des Weiteren erfahre ich, dass die Menschen den Sommer eigentlich hauptsächlich damit verbringen, den harten Winter vorzubereiten und Vorräte anzulegen. Daher auch die Gemüsegärten. Viele Menschen haben nicht viel Geld um Häuser zu bauen. Als Notlösung dienen die alten Eisenbahnschienenunterleghölzer, aus denen ganze Häuser gezimmert werden. Das Problem daran: die Hölzer sind giftig behandelt mit schädlichen Folgen für die Gesundheit der Bewohner. Was ich höre ist informativ aber stimmt mich gleichzeitig auch sehr traurig. Wie so oft trügt der erste Schein.
Taigaausflug: Bootsfahrt, Wandern und Picknick
Nach dem Mittagessen fahre ich mit Lina und Malinka an den Fluss zum Baden. Kurze Zeit später taucht Grigori auf mit einem Speedboot im Schlepptau. Dieses wird zu Wasser gelassen, mit Picknickkorb bestückt und los geht die Fahrt entlang der Birjusa. Mit wehenden Haaren erkunden wir die einzelnen Flussarme der Birjusa, sehen Menschen und Kühe Seite an Seite im Wasser plantschen, bis wir schließlich am Fuße eines Hügels Halt machen.
Im spärlichen Schatten vereinzelter Bäume besteigen wir in der Hitze den Hügel. Oben erwartet uns ein toller Ausblick über die Taiga und die einzelnen Flussarme bis Taischet. Wunderschön! Nachdem wir die Aussicht ausgiebig genossen haben geht es wieder bergab zum Boot. Kurze Zeit später machen wir Halt an einer Sandbank mitten im Fluss. Der perfekte Ausgangspunkt für eine erfrischende Schwimmpartie. Grigori und ich dümpeln im Wasser und lassen uns ein wenig mit der Strömung treiben.
Hungrig vom Schwimmen setzen wir uns wieder ins Boot und suchen nach einem geeigneten Platz für unser Picknick. Diesen finden wir alsbald in Form einer steinernen “Insel” inmitten des Flussbetts. Ich staune nicht schlecht, was Grigori alles aus dem Boot hervorzaubert. Ruckzuck wird ein prasselndes Lagerfeuer gebaut, ein Tisch und Stühle aufgebaut und Gemüse geschnippelt. Vor mir wird ein wahres Festmahl ausgebreitet: Kartoffelbrei (über dem Feuer gekocht), frischer Pilzsalat, Gemüse, Kräuter, die fluffigen Pfannkuchen vom Frühstück,… Wirklich lecker! Und spätestens jetzt muss ich Grigori Recht geben, was sein “natural Produkt” angeht. Und all dieser Aufwand nur für mich! Ich kann’s kaum glauben. Wieder einmal wird mir bewusst, wie gut ich es habe. Nachdem wir uns die Bäuche vollgeschlagen haben schnappen wir uns unsere Stühle und setzen uns mit einer Tasse Tee in der Hand direkt in den Fluss. So lässt es sich wirklich aushalten!
Auf Wiedersehen Birjusa
Lina und Malinka warten bereits auf uns am Strand. Sie nehmen mich mit zum Haus, wo mir noch etwas Zeit zu packen und eine Tasse Tee zu trinken bleibt. Dann heißt es leider Abschied nehmen von Birjusa. Ich werfe einen letzten Blick zurück und steige in Linas Auto. Am Bahnhof müssen wir noch etwas warten. Ich amüsiere mich köstlich über Malinka, die sich in den Biene Maja Koffer eines wartenden Mädchens verliebt und diesen kurzerhand klaut. Mehrmals. Schweren Herzen verabschiede ich mich von Lina, Malinka und Grigori, die mir Sibirien so unglaublich nahe gebracht und mich mit offenen Armen empfangen haben. Mein Zug nach Irkutsk rollt in den Bahnhof. Tschüß, Sibirien! Du warst toll!
До свидания Бирюса
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3 Antworten zu “Zu Besuch in Sibirien – ein Boot, viel Wodka & russische Gastfreundschaft”
[…] Vorteil ganz klar bei einem Individuellen Reiseveranstalter. Ausflüge und Zwischenstopps wie mein Aufenthalt bei einer Familie mit Bootsausflug und Picknick in der sibirischen Taiga wäre auf eigene Faust nur schwer möglich gewesen. Bei Gruppenreisen muss man sich über Ausflüge […]
[…] Leute wirklich intensiv kennenzulernen. Eine meiner tollsten Erlebnisse auf dieser Reise war der Besuch bei einer Familie in Sibirien, die mir nicht nur Unterschlupf gewährten, sondern mir auch tiefe Einblicke in den Alltag und das […]
[…] Zu Besuch in Sibirien: Ein Boot, viel Wodka und russische Gastfreundschaft […]