Mein Herz macht einen Sprung als ich leicht benommen von der kurvigen Fahrt aus dem Auto klettere und vor mir ein wahrhaftes Postkartenmotiv entdecke: Cerdeira, eines der Schieferdörfer Mittelportugals. Natürlich fügen sich die lehmfarbenen Schieferhäuschen mit ihren rostroten Ziegeln – mit Schieferplatten vom Absturz gesichert – in die Berglandschaft ein. Einladend ragen hölzerne Balkone, Türen und Fenster aus ihrem steinernen Gemäuer heraus. Mich umfängt der Duft nach würzigen Kräutern und betörendem Weißdorn. Ich folge dem Geräusch von fallendem Wasser und lande beim Ribeira Cerdeira, dem Quellbach Cerdeiras, der sich rauschend seinen Weg ins Tal hinunter bahnt.
Inhalt
Vom Ursprung des Schieferdorfs Cerdeira
Cerdeira? Bei diesem Namen wird wohl bei 99,9% der Bevölkerung kein Groschen fallen, handelt es sich dabei doch um eines der Schieferdörfer, der “aldeias do xisto” in den Bergen Mittelportugals.
Wirtschaftliche Gründe sorgten dafür, dass das Dorf ab den 1940er Jahren langsam ausstarb, verfiel und Stück für Stück von der Natur zurückerobert wurde. Dies änderte sich erst, als die Deutsche Kerstin Thomas im Jahr 1988 das Dorf entdeckte und zusammen mit ihrer Familie von seinem Schneewittchenschlaf zu befreien begann. Ein echtes Mammut-Projekt. Denn hier, in der Abgeschiedenheit der Berge gab es damals weder fließend Wasser noch Strom, Abwasser oder eine geteerte Zufahrtsstraße. Geschweige denn eine Telefonverbindung. Hartnäckig, mit jede Menge Schweiß, Herzblut und der tatkräftigen Unterstützung von Freunden und lokalen Handwerkern begann Kerstin den Wiederaufbau von Cerdeira. Immer die Vision im Hinterkopf, dem Dorf einen neuen Lebenssinn zu geben und dabei so naturverträglich und traditionell wie möglich vorzugehen. Beinahe vergessene, Jahrhunderte alte Techniken mussten hierfür teilweise erst wieder zusammengetragen und neu erlernt werden. Selbstverständlich gelang dies nicht ohne Misserfolge: Der erste Stock des Seminarhauses hielt nicht lange Stand und fiel wieder in sich zusammen.
Ein Dorf im Wandel: Cerdeira heute
Wir folgen dem schmalen Weg ins Dorf hinein und werden herzlich von Kerstin Thomas und Catarina Serra in Empfang genommen. Die beiden sind die treibenden Kräfte hinter Cerdeira in seiner heutigen Gestalt. Kerstin ist nicht nur die Pionierin und Visionärin Cerdeiras, sie ist als Holzbildhauerin auch die künstlerische Seele des Dorfes. Catarina ist die Marketing-Managerin und kümmert sich um die Kommunikation, Partnerschaften und Social Media-Kanäle.
Denn in den letzten Jahren hat sich in Cerdeira viel getan. Grund dafür ist die ADXTUR – Agency for the Tourist Development of the Schist Villages, ein Zusammenschluss von 27 Schieferdörfern zwischen Coimbra und Castel Branco mit dem Ziel der nachhaltigen Entwicklung des Tourismus in der Region. Tourismus, der die Natur, die Menschen und das lokale Handwerk mit einbezieht statt ausbeutet. Gelder flossen beispielsweise in das Anlegen von Infrastruktur, Wanderwegen, Badestellen entlang der Flüsse und kleinen Läden, die regionale Produkte verkaufen. Und im Fall von Cerdeira in den Wiederaufbau.
Aus den Ruinen der alten Schieferhäuschen sind ein Café mit Galerie, eine Bibliothek, ein Museum, ein Seminarraum, ein kleiner Laden, 9 Ferienwohnungen und eine Künstlerresidenz für bis zu 12 Personen entstanden.
Wohnen im Einklang mit der Natur und Region
Bevor wir auf Erkundungstour aufbrechen, werden uns unsere Unterkünfte zugeteilt. Äußerlich entsprechen die Häuser dem früheren Erscheinungsbild, Innen jedoch wurde eine neue, moderne Einteilung gewählt. So befindet sich in meinem Häuschen unten ein Wohn- und Essbereich mit Küche, Sofa und Kamin und oben ein Schlafzimmer und ein Badezimmer. Aufgrund der guten, biologischen Bausubstanz halten die Häuschen im Sommer die Hitze draußen und im Winter die Wärme drinnen. So muss kaum geheizt werden. Falls man doch heizen möchte, so wird die Heizung durch Sonnen- und Windenergie gespeist. Das Wasser mit Trinkwasserqualität kommt aus der Quelle. Die Inneneinrichtung besteht beinahe komplett aus regionalen, natürlichen Materialien. Portugiesische Künstler – für jedes Häuschen ein anderer – durften den Unterkünften ihren Stempel aufdrücken.
Wo Natur und Kultur aufeinander treffen
Auch Kerstin hat eines der Häuschen gestaltet, erzählt sie uns. “Casa das Vizinhas”, das Haus der Nachbarinnen hat sie es getauft und mit liebevoll von Holz geschnitzten rundgesichtigen alten Damen bestückt. Gutmütig und gewitzt blicken sie von den Wänden herab. Dabei handelt es sich um die Nachbarinnen, die sie gerne gehabt hätte, die aber zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in Cerdeira nicht mehr dort waren, erklärt Kerstin. Eine schöne Idee, wie ich finde. Auch der Ausblick vom Balkon auf Teile des Dorfs und die Berge kann sich sehen lassen. Hier will man bleiben. Am liebsten länger.
Der Teil des Dorfes, der Kerstin besonders am Herzen liegt sind die Einrichtungen für Künstler, das merkt man. Kunstschaffende aus Nah und Fern können sich in der Künstlerresidenz einquartieren und in der unberührten Natur oder den Werkstätten ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Bei den “Creative Experiences”, Schnupperkursen, verschmelzen künstlerisches Schaffen, Natur und Tradition bei der Arbeit mit Ton, Schiefer oder Holz. Jeder Gast in Cerdeira hat die Möglichkeit, bei einem oder mehreren dieser Creative Experiences teilzunehmen.
So schmeckt Mittelportugal!
Gutes Essen wird in Portugal zelebriert – am liebsten über Stunden. Für ein gutes Restaurant legen die Portugiesen auch gerne ein paar Kilometer mehr zurück. So auch für das Restaurant Burgo, welches in idyllischer Lage in der Nähe des Schlosses von Lousã liegt und dessen guter Ruf bis in den weiten Umkreis bekannt ist. Hier wollen wir uns beim Abendessen mit der regionalen Küche bekannt machen. In den Bergen Portugals bildet Fleisch (Ziege, Kaninchen, Wildschwein, Reh und Hühnchen) den Hauptbestandteil der Mahlzeit. Dazu werden Beilagen wie Esskastanien, Pilze, Kohl und Kartoffeln gereicht. Der Nachttisch ist sehr süß und immer eierlastig. Kerstin erzählt uns, dies geht darauf zurück, dass die Nonnen in den Klöstern früher das Eiweiß zum Stärken ihrer Hauben nutzten. Das übrig gebliebene Eigelb musste verwertet werden und so entstand eine Vielzahl an Nachtischen, die auf Ei basieren.
Wohl gesättigt und eingelullt vom beruhigenden Plätschern des Wassers, der reinen Bergluft und der heimeligen Atmosphäre meines Schieferhäuschens falle ich in einen tiefen Schlaf.
Morgenstunden in Cerdeira
Die Sonne ist noch nicht über den Bergrücken geklommen, als ich am nächsten Morgen erwache. Die Vögel zwitschern und der über Nacht aufgekommene leichte Wind lässt die Bäume mit dem Wasser des Bachs um die Wette rauschen.
Eine unglaubliche Friedlichkeit liegt über dem Dorf. Die einzigen schon munteren Lebewesen, die mir auf meinem Gang zur Quelle begegnen sind die beiden Hunde, die Seite an Seite auf Erkundungstour in den Büschen verschwinden. Ich lasse die Idylle auf mich wirken und streife durch die leeren Gässchen. Pünktlich um 8:30 Uhr kommt plötzlich Leben ins Dorf. Frühstück! In Nullkommanix füllt sich die schmale Stube des Cafés und es herrscht eine familiäre Geschäftigkeit. Kaum zu glauben, dass hier früher einmal eine 7-köpfige Familie gewohnt hat! Kaffee läuft in winzige Espressotässchen, Brot wird goldbraun getoastet und die ersten Entscheidungen des Tages bei der Auswahl an Käse, Wurst, Marmeladen und Honig getroffen. Besonders empfehlenswert sind die selbstgemachten Marmeladen und der Heidehonig, welcher typisch für die Gegend ist. Wer die “eigenen” vier Wände vorzieht, kann sich einen Frühstückskorb bis vor die Tür bringen lassen.
Chanfana-Workshop
Als wir aus dem Café treten umfängt uns bereits der bekannte Geruch nach Holzfeuer. Kerstin hat bereits den traditionellen Steinofen des “Museums” angeheizt, ein kleines Schieferhäuschen, dessen Ausstattung der der früheren Häuser nachempfunden ist. Einfach, kalt und rauchig ist der erste Eindruck des Hauses, in dessen einzigem Zimmer sowohl gekocht, geschlafen und gelebt wurde. Das Feuer prasselt nicht grundlos im Ofen, denn wir lernen heute, wie man eine “Chanfana” (auf deutsch: “guter Braten”) zubereitet. Dabei handelt es sich um Ziegenfleisch, welches über Stunden in Rotwein und Gewürzen in einem Tontopf gegart wird. Dieses Gericht hat eine lange Tradition in der Region und wurde früher zu besonderen Anlässen aus dem Fleisch alter Ziegen zubereitet. Warum alter Ziegen? Ganz einfach, die jüngeren Ziegen waren zur Zucht, Verkauf und Milchgewinnung gedacht und zu wertvoll zum Verspeisen. Das Rezept ist denkbar einfach wie gut: Man nehme einen Tontopf, fülle ihn mit Fleisch und Knochen einer Ziege, gebe Knoblauch, Zwiebel, Salz, Pfeffer, Paprika, Lorbeerblatt und Piri-Piri hinzu und tränke das Ganze mit Rotwein. Dann muss das Ganze “nur” noch 4 Stunden im Holzofen schmoren.
Wanderung zum Schieferdorf Candal
Nachdem wir die Chanfana im Holzofen verstaut haben, wartet bereits Ariana auf uns. Sie kennt Cerdeira seit ihren Kindertagen und antwortet auf die Frage, wie sie es empfindet, dort zu arbeiten, strahlend, es sei paradiesisch. Ich glaube ihr. Sie betreut eigentlich das Café in Cerdeira aber wenn nötig, springt sie auch für Wanderungen ein. Ihr Vater, erzählt sie stolz, ist leidenschaftlicher Wanderer und kennt die Gegend wie seine Westentasche. Sie wird uns heute zum nahegelegenen Schieferdorf Candal begleiten. Dabei wandeln wir auf – für Cerdeira – historischen Pfaden. Wir schlagen nämlich denselben Weg ein, den einst die Kinder von Cerdeira auf ihrem Weg zur Schule gingen. Treppab führt uns der Weg aus dem Dorf hinaus. Die Ruinen der Ziegenställe sind stummer Zeuge der Zeit, als die Einwohner von Cerdeira von der Zucht und dem Verkauf der 800 Ziegen, die sie hier hielten, lebten. Halb verfallen und wildromantisch von Pflanzen überwuchert liegen sie nun an unserem Wegesrand. Bienen summen von Blümchen zu Blümchen. Ariane erzählt uns, dass sich die Hänge rund um Cerdeira im Sommer zur Heideblüte in leuchtendem Violett färben. Ein wahres Bienenparadies und der Grund dafür, warum der dunkle Heidehonig so typisch für diese Region ist. Wir hüpfen über die Steine im Flussbett und folgen dem Weg bergauf, bis schließlich Candal, ein weiteres Schieferdorf Mittelportugals, vor uns liegt. Was uns direkt auffällt: Während in Cerdeira alle Häuser mit denselben Materialien und Techniken gebaut sind, gleicht hier kaum ein Haus dem anderen. Dies liegt daran, erklärt Ariana, dass das Dorf an einer Durchgangsstraße liegt und daher nie komplett verlassen wurde. Die verschiedenen Besitzer haben im Lauf der Jahre ihre Häuser nach ihrem Geschmack und Budget gestaltet bzw. erneuert. Nichtsdestotrotz ist Candal ein hübsches Dorf, mit blumenüberrankten Eingängen und Charme. Wir lassen uns im Restaurant Sabores nieder, in dem Anna den Kochlöffel schwingt. Gelernte Köchin ist sie nicht, lacht sie, nur eine Mutter, die jetzt für Gäste kocht. Und so fühlt es sich auch an in ihrer Gaststube. Wie bei Muttern zu Hause. Munter füllt sie unseren Tisch mit geschmortem Fleisch, Kartoffeln, Broccoli und Brot. Im Anschluss probieren wir uns noch durch die Nachspeisen, mein Favorit ist der süße Milchreis mit eingelegter Birne. Ein Traum!
Workshop der figurativen Keramik
Nach unserer Rückkehr nach Cerdeira lädt uns Kerstin in die Werkstatt ein. Da bei allen Workshops neben dem Spaß auch das Lernen im Vordergrund steht, machen wir als erstes einen kleinen Exkurs in die Welt der figurativen Keramik. Diese hat sich aus der Gebrauchskeramik entwickelt und ist als Volks- und Bauernkunst mit extremen Zügen zu verstehen. Oft spiegelt sie Szenen des ländlichen Lebens wieder. Kerstin erzählt von Rosa Ramalho, deren Ziegenfigur niemand minderen als Picasso inspirierte, von Dämonen und Teufeln, den “Ostfriesen von Portugal” und der schwarzen, geräucherten Keramik.
Dann legen wir los. Kühl und glatt schmiegt sich der Ton in unsere Hände. Nach einigen verkorksten aber spaßigen Anläufen sprudeln wir geradezu vor Kreativität. Zudem hat die Arbeit mit dem Ton etwas Meditatives, Beruhigendes. Beim Kneten, Formen und Quatschen vergeht die Zeit wie im Flug.
Tagesausklang mit alter Ziege
Zum Abendessen gibt es die im Ofen geschmorte Chanfana, begleitet von Esskastanien, Kartoffeln und Pilzen auf der Terrasse des Seminarraums. Zum Nachtisch wartet eine große Schüssel selbstgemachte Erdbeermousse auf uns. Wir schauen zu, wie sich die Sonne langsam aus dem Tal verabschiedet und stoßen an auf unseren rundum gelungenen Aufenthalt im Cerdeira Village. Bereits nach dieser kurzen Zeit haben wir das Gefühl, nicht nur dort zu sein, sondern dazuzugehören, Anzukommen. Ein ganz besonderes Fleckchen Erde. Cerdeira, ich komme wieder! So viel ist sicher!
Tipps für das Cerdeira Village
- Cerdeira befindet sich in den Bergen Mittelportugals, 214 km vom Flughafen in Lissabon und 194 km vom Flughafen in Porto entfernt. Die nächste größere Stadt ist Coimbra, welches 38 km entfernt liegt.
- Jede der 9 Ferienwohnungen ist anders. Die genaue Beschreibung sowie Preise der verschiedenen Wohnungen erfährst du unter diesem Link. Jedes Apartment verfügt über eine voll ausgestattete Küche, die die Selbstverpflegung einfach macht.
- Frühstück ist im Cerdeira Village entweder im Café oder in der Form eines am Vortag bestellten Frühstückskorbs inklusive.
- Nach einem aufregenden Tag in den Bergen oder wer keine Lust hat, zum Essen auszugehen gibt es die Möglichkeit, im Cerdeira Village Abendessen zu bestellen, welches dann direkt in die Ferienwohnung geliefert wird. Ein toller Service!
- Alles über die “Creative Experiences” (auf deutsch: Kreative Schnupperkurse) erfährst Du unter diesem Link. Jeder der Kurse dauert ca. 3 Stunden und kostet 25,- € pro Erwachsener und 15,- € pro Kind
- Tolle Restaurants in der Umgebung sind das Restaurant Burgo beim Schloss von Lousã und das Restaurant Sabores in Candal
- Eine interaktive Karte der Schieferdörfer findest Du unter diesem Link.
Diese Reise habe ich auf Einladung des Cerdeira Village unternommen. Meine Meinung und meine Begeisterung bleiben meine eigene.
Na, hast Du Lust bekommen auf den Besuch der Schieferdörfer Mittelportugals? Erzähl es mir!
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5 Antworten zu “Die Schieferdörfer Mittelportugals: Der Natur ganz nah im Cerdeira Village”
Das hast Du aber nett erzählt! Es ist ja auch wirklich genauso schön dort :-) … ich will gleich wieder hin!!!!!
ganz doll liebe Grüße
Nicole
Danke <3 Ja, da geht es mir genauso! Hach, Cerdeira...
Drück Dich, Kerstin
[…] Die Schieferdörfer Mittelportugals: Der Natur ganz nah im Cerdeira Village […]
Liebe Kerstin,
dein Bericht ist zwar schon etwas länger her, aber beschreibt genau das Gefühl, das ich habe, seit dem ich
in Cerdeira vor ca. 2 Wochen, während unserer Rundreise von Lissabon nach Porto, gewesen bin. Wir wollten
nur 2 Nächte bleiben und haben verlängert auf 4. Leider war die Zeit zu kurz, um einen Workshop zu besuchen. Wir
haben aber zwei wunderbare Wanderungen unternommen. Ich weiß, dass ich diesen Ort bald wieder besuchen
werde. Portugal hat mich verzaubert und die Erinnerungen sind noch ganz frisch.
Herzliche Grüße aus der Uckermark
Silke
Hallo liebe Silke,
das freut mich total zu hören! Denke wirklich gerne an meinen Aufenthalt in Cerdeira zurück, ein einzigartiger, für mich magischer Ort.
Mir geht’s ähnlich, will auf jeden Fall irgendwann noch einmal zurück.
Liebe Grüße aus Haarlem,
Kerstin